In einer der eindringlichsten Szenen aus „She Flies by Her Own Wings“ geht Shannon Scott allein durch einen Friedhof. Wie sie im Off erklärt, befindet sich dort der Congressional Cemetery in Washington, DC, wo sie die Grabstätten homosexueller Soldaten besucht, die dort ihre letzte Ruhe gefunden haben. Auf einem Grabstein, der mit zwei rosa Dreiecken in unterschiedliche Richtungen versehen ist, steht: „Ein stolzer, homosexueller Vietnam-Veteran.“
Ein anderer Grabspruch hingegen liest sich wie eine Warnung an die aktuelle Regierung: „Als ich beim Militär war, verliehen sie mir eine Medaille, weil ich zwei Männer getötet hatte, und entließen mich, weil ich einen liebte“, heißt es dort.
Diese Situation kennt Scott nur zu gut.
2011 wurde die Veteranin aus der Air National Guard der US Air Force entlassen, nachdem sie heimlich mit der Geschlechtsumwandlung begonnen hatte. Doch Scott erzählt INTO , dass die Veränderungen für ihr Umfeld „offensichtlich“ waren. Sie kam mit leuchtend roten Flecken auf den Wangen von der Laser-Haarentfernung zur Arbeit und begann, ihre Haare wachsen zu lassen, was gegen die Vorschriften verstieß.
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Während Scott sich langsam in die Frau verwandelte, die sie immer gewesen war, reagierten die anderen Soldaten in Scotts Einheit auf sie. Wenn sie die Beine übereinanderschlug, packten einige von ihnen ihren Fuß und drückten ihn von ihrem anderen Oberschenkel herunter, um das ihrer Ansicht nach abweichende Verhalten zu korrigieren.
Nachdem sich unter ihren Kollegen Gerüchte verbreitet hatten, wurde Scott in das Büro ihres Vorgesetzten gerufen. Auf dem Schreibtisch fielen ihr sofort zwei Zettel auf. Einer davon war der Abschnitt des US-Militärrechts, der Transgendern den offenen Militärdienst verbietet. Die Regelung, die 2016 von der Obama-Regierung aufgehoben wurde, verglich Transgender mit „Pädophilen“.
Das andere war eine ehrenhafte Entlassung mit Scotts Namen darauf.
„Ich war mehr als alles andere geschockt“, sagt sie in einem einstündigen Telefongespräch. „Er sagte: ‚Sie haben hier zwei Möglichkeiten. Sie können es geheim halten, es geheim halten, und Sie können bleiben – oder Sie sind im Grunde weg.‘“
Scotts Geschichte ist eine von dreien, die in Authentically Us porträtiert werden, einem Dokumentarprojekt des Filmemachers Jesse Ayala, das sich auf drei Themen konzentriert. Ayala, der offen schwul ist, erzählt INTO , dass er zeigen wollte, dass Transgender-Menschen „überall arbeiten“, „überall leben“ und dass „sie schon immer hier waren“.
In „A Treasured State“ zieht Acton Seibel zurück nach Missoula, Montana, als seine Geschlechtsumwandlung beginnt. „We're Still Here“ dokumentiert die Versuche des Two-Spirit-Künstlers Aiden Crawford, die Geschichte der queeren First-Nation-Gemeinschaften zu bewahren.
Diese Geschichten wurden aus 200 Interviews ausgewählt, die im gesamten amerikanischen Nordwesten durchgeführt wurden.
„Wir wollten in jeder dieser Geschichten hervorheben, dass es keine Geschichten des Schmerzes sind“, sagt Ayala am Telefon. „Auch wenn viele dieser Menschen viel Schmerz erleiden, sind es Geschichten von starken Charakteren und starken Menschen, die die Welt für ihre Mitmenschen auf vielfältige Weise besser machen.“
Authentically Us nähert sich diesen Erzählungen auf revolutionäre Weise. Die Kurzfilmreihe wurde mit der Oculus VRa-Technologie gedreht, die Szenen in 360 Grad und in alle Richtungen aufzeichnet.
Die Wirkung ist fast überwältigend. Wenn Scott in einer Lobby-Sitzung mit Senator Ron Wyden (D-Oregon) sitzt, haben die Zuschauer die Möglichkeit, durch den Raum zu schwenken, während die Abgeordneten ihr zuhören, wie sie über Präsident Trumps Politik spricht, Transsexuelle vom Militärdienst auszuschließen. Im Juli 2017 twitterte der Oberbefehlshaber, dass Transgender-Personen „in keiner Funktion“ dienen dürften.
Wenn sie an ihre eigene Entlassung zurückdenkt, sagt sie zu Wyden: „Den 15.000 Soldaten, die jetzt dort draußen sind, bricht es genauso das Herz wie mir.“
„Der Tag, an dem ich den Stützpunkt verließ und meinen Militärdienst quittierte, war für mich ein herzzerreißender Tag“, erklärt Scott. „Als ich weinte, vom Stützpunkt wegfuhr und auf etwas zurückblickte, das ich nie wieder tun würde, dachte ich: Das ist so falsch. Ich liebe dieses Land so sehr und ich liebe, was ich hier tue.“
Das Besondere daran, sich ein Headset aufzusetzen, anstatt Scott bequem von der Couch aus zuzuschauen, ist, dass die Filmemacher hinter Authentically Us nicht die Möglichkeit hatten, das Bild zu bearbeiten. Als Scott im Oktober 2017 bei einer Veranstaltung des US-Veteranenministeriums spricht, nimmt die allwissende Kamera alles auf, von den verschiedenen Flaggen hinter ihr auf der Bühne bis zu den Getränken auf den Tischen der Teilnehmer.
Ayala glaubt, dass es diese Details sind – ob es nun die Schuhe sind, die Scott trägt, oder die Vorhänge, die in ihrem Fenster hängen –, die ihre Geschichte für die Zuschauer noch menschlicher machen. Er sagt, dass „die kleinen Dinge sich zu summieren beginnen“.
„Das ultimative Ziel war, Verständnis und Empathie zu schaffen“, fährt Ayala fort. „Wir haben uns für virtuelle Realität entschieden, weil man mit einem Headset ein gewisses Maß an Intimität mit der Figur hat. Man stimmt zu, mit dieser Person an diesem Ort zu sein, und man sieht ihre Geschichten.“
„She Flies by Her Own Wings“ ist ein neunminütiger Abschnitt der dreiteiligen Serie und feierte am 21. April beim Tribeca Film Festival Premiere, bevor er später in diesem Monat bei den Filmfestspielen von Cannes gezeigt wird.
Authentically Us wurde 2017 durch das Facebook/Oculus Creators Lab finanziert.
Das Kreativteam hinter dem ersten Projekt seiner Art sagt, dass die meisten Besucher des prestigeträchtigen Filmfestivals in New York noch nie etwas wie diesen Film gesehen hätten. Abgesehen von der Neuheit der Oculus VR-Technologie würden viele Zuschauer zum ersten Mal mit einer Transgender-Person in Kontakt treten.
Als Ayala Acton in einem Interview fragte, was er jemandem sagen würde, der noch nie zuvor eine transsexuelle Person getroffen hat, sagte er: „Das haben sie, sie wissen es nur nicht.“
„Das ist mir im Gedächtnis geblieben“, behauptet der Regisseur. „Transgender-Menschen gibt es überall, und wir haben täglich mit ihnen zu tun, aber viele Menschen nehmen das nicht wahr. Sie sind nicht beängstigend. Sie sind nicht der Feind. Sie leben in Gemeinschaften mit uns und bereichern unser aller Leben, wenn wir nur offen dafür wären, das zu sehen.“
Fast ein Jahr, nachdem der Präsident sein Militärverbot getwittert hatte – das durch eine Reihe von Urteilen eines Bundesgerichts blockiert wurde –, ist Scott davon überzeugt, dass der Film den Menschen die Augen für die Diskriminierung öffnen kann, der Transsexuelle ausgesetzt sind.
„Wenn sie diese Brille abnehmen, beginnen sie, die Menschen anders zu sehen“, sagt sie.
Vor ihrer offiziellen Entlassung aus der Air Force hatte Scott das Glück, einen Job bei der Federal Aviation Administration in Portland, Oregon, zu bekommen. Während sie das Land in einem U-Haul durchquerte, erinnert sich Scott daran, wie sie durch die Schlucht des Columbia River fuhr, während der Regen die Wildnis Oregons überflutete. Sie sagt, der Regenguss fühlte sich „wie eine Reinigung an, als ob mein ganzes Leben von mir abgewaschen würde und ich neu geboren würde.“
Scott beschloss, ihr Leben der Aufgabe zu widmen, anderen transsexuellen Soldaten den gleichen Schmerz und das gleiche Leid zu ersparen wie ihr.
„Ich fing an zu weinen“, sagt sie. „Es waren fast 30 Jahre aufgestauter Emotionen, Wut, Angst und Frustration. Ich war gerade reingewaschen. Ich musste den U-Haul an den Straßenrand fahren. Ich saß da und weinte, ich weiß nicht wie lange. Ich fuhr den U-Haul wieder auf die Autobahn und begann den nächsten Abschnitt meines Lebens.“
„Authentically Us“ wird ab November im Oculus VR Store erhältlich sein und Zuschauer haben dort auch die Möglichkeit, einen 360-Grad-Videoausschnitt anzusehen.
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